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Ansehen und Begegnung

Gedanken zum Tag der Sehbehinderten (6. Juni)

„Ich sehe so, wie Du nicht siehst“? Ein wenig überraschend diese Aussage. Finden Sie das auch? „Ich sehe so, wie Du nicht siehst“. Da sieht jemand anders. Einfach deshalb, weil er weniger sieht, weil er mit einer Sehbehinderung lebt.

„Ich trau mich nicht mehr raus zu gehen auf die Strasse“, sagte mir ein älterer Herr. „Ich erkenne nicht mehr, wer mir entgegen kommt. Da grüßt mich jemand, aber ich weiß nicht wer es ist. Froh bin ich, wenn ich denjenigen vielleicht mal an seiner Stimme erkenne. Das passiert aber selten.“
Wer nicht grüßt, weil er einen anderen nicht erkennt, kann schon mal als überheblich bezeichnet werden. So, so! Der grüßt mich nicht mehr – was der bloß hat …?! Das Problem ist folgendes: Außenstehenden, das heißt voll Sehenden, ist selten bewusst: Das kann mit eingeschränktem Sehen zu tun haben. Dass einer weniger sieht, sieht man ihm ja nicht unbedingt an. Da ist es wirklich hilfreich, wenn ich mich mit meinem Namen vorstelle. Damit der andere weiß, mit wem er es jetzt zu tun hat. Doch wer kommt da gleich drauf?
Tatsache ist: Wo das Hinsehen, das Ansehen, nicht mehr so richtig möglich ist, da wird es auch mit dem Miteinander schwierig. Der stärkste Leitsinn, das Sehen, spielt hier eine ganz große Rolle. Doch nur selten ist einem dieser Vorgang bewusst:
Ich sehe jemanden. Ich erkenne, wer es ist. Und ich entscheide, ob ich jetzt mit ihm in Beziehung kommen möchte. – Ob ich stehen bleibe und ihn begrüße? Versuche ich ein Gespräch?
Ansehen haben und miteinander sprechen, jemanden ansehen und zu ihm in Beziehung treten, gehören zusammen. Und ganz in dieser Reihenfolge. Erst das Sehen, dann die Beziehung. Diese Rangfolge unserer Sinne steckt in uns drin, tief eingewurzelt in unserer Seele.

Sonntags, im Gottesdienst, wird uns der Segen Gottes zugesprochen. Und auch da beginnt es mit dem Ansehen: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig“. – Wir vergewissern uns hier, dass wir im Ansehen Gottes stehen.
Und bekommen darauf die Zusage, dass Gott sich uns zuwendet, zu uns in Verbindung tritt, mit uns was zu tun haben will: „Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden“. Diesen Segen Gottes geben wir weiter, wenn wir beherzigen: Als Angesehener sehe ich dich an. Und dann gehe ich noch einen Schritt weiter: Ich frage dich, ich rede mit dir.
Kann ja sein, dass jener alte Herr sich wieder mutiger unter die Leute mischt, weil er echt angesprochen wird. Und mit anderen spricht, auch wenn das mit seinem Hinsehen so eine Sache für ihn ist. Denn bei ihm ist es ja so: „Ich sehe so, wie Du nicht siehst“.
Jeder Tag sei ein erfüllter Tag im Hinsehen, im Ansehen anderer und in gelingender Begegnung mit ihnen.

(Lothar Süß)