Navigation

Die Entregelung der Sinne (von Eduard Kopp)

Sehen wir nur, was wir sehen wollen?

Aus Bequemlichkeit oder Scham lassen wir uns viele Erfahrungen entgehen. Hartnäckig behaupten sich einmal erworbene Sichtweisen und Rituale

Ein junger Mann kommt zu einem Zen-Meister. Von ihm möchte er die Kunst der Meditation erlernen. Während der junge Mann seine Wünsche schildert, gießt der Meister Tee in eine Schale. Er gießt immer weiter ein, auch als der Tee bereits überfließt. Der Schüler springt auf, ruft: „Halt, halt! Es geht nichts mehr in die Schale hinein, sie ist längst voll!“ Der Meister lacht und sagt: „Wie soll ich dich in die Meditation einführen, denn du bist gefüllt wie diese Schale? So ist es: Nur wenn etwas leer ist, läßt sich etwas einfüllen.“

In einer Hamburger Kirchengemeinde herrscht das Verhaltensmuster stumm-still-rezeptiv vor. Nach hergebrachten Regeln verlaufen die Gottesdienste. Liturgisch sind Überraschungen nicht vorgesehen. Man stützt sich aufs Altbewährte. Gewiß läßt sich Liturgie nicht jede Woche neu erfinden, und im übrigen wäre dies auch nicht wünschenswert. Denn regelmäßige liturgische Abläufe entlasten vom Zwang zu stetiger Kreativität. Paradoxerweise sind gerade die gleichbleibenden Verkündigungsformen die Schale, in die sich etwas einfüllen läßt. Jeder Anwesende füllt sie anders.
Doch dann gab es Aufregung. Als ein paar ältere Frauen in den ersten Reihen über den Lärm der Kinder maulten und sie in einen schallisolierten Nebenraum abdrängen wollten, kehrte der Pfarrer den Spieß um. Er lud die lärmempfindlichen Alten ein, dem Gottesdienst in der Nebenkammer zu folgen. Dieser Einladung kamen sie nicht nach. Die Botschaft freilich hatten sie verstanden: Macht euch leer für das Wesentliche. Verhakt euch nicht in die Ablehnung von kindlicher Spontaneität.

Wir sehen Dinge, die nicht zu sehen sind
Wahrnehmung hat ihre Grenzen: Sie selektiert radikal. Die Augen nehmen pro Sekunde 200 Millionen Bits auf, die Ohren 30 000 Bits, beide also nur einen winzigen Bruchteil der uns umgebenden Welt. Wir erfassen also keineswegs mal um mal alle Details eines Gegenstands oder Vorgangs. Vielmehr verknüpft unser Hirn die Informationen von Netzhaut und Trommelfell mit unserem Wissen von diesen Gegenständen automatisch und unwillkürlich. So kommt es auch, daß wir Dinge „sehen“, die gar nicht zu sehen sind, und andere wiederum überhaupt nicht. Könnte das Gehirn die gespeicherten und die neuen Eindrücke nicht miteinander vergleichen, müßten wir unter der Fülle der Eindrücke zusammenbrechen. Eine Mensch, der die Verknüpfung nicht zu leisten vermag, ist geisteskrank. Ihm fehlt auch die Fähigkeit, Eindrücke auszuwählen, zu selektieren. Erkennen wir etwas, so schöpfen wir im gleichen Moment aus früheren Erfahrungen mit diesem Gegenstand.
Sammlern dämmert, kaum daß sie ein passendes Objekt erspäht haben, sogleich auch ihr Vorwissen über dieses Ding. Eheleute und nicht nur sie lassen, wenn sie einen bestimmten Gesichtsausdruck ihres Partners bemerken, sogleich frühere Streitigkeiten oder Freuden in sich klingen. Kirchenmusik, in Kindertagen tief in den Emotionen verankert, vermag auch Jahrzehnte später wieder die Gefühle der Kinderzeit wachzurufen. Eine Frau, mit der ein Junge erste sexuelle Erfahrungen machte, prägt für ein ganzes Leben seinen Frauentyp.
Wir sehen nicht jedesmal neu, wir könnten es auch gar nicht. Wir erfinden unsere Umwelt, unseren Stadtteil, unsere Nachbarschaft, unsere Arbeitskollegen und Lebenspartner je neu – auf der Folie dessen, was wir von ihnen gewohnt sind.

Wir erfinden unseren Gott, weil wir das wenige fortschreiben, was wir von ihm letztlich wissen. Zwar haben wir gelernt: Gott ist uns auch fremd, er bleibt uns auch bisweilen fern, denn er ist keine gefühlige Schwingung unseres Gemüts. Wir kröpfen ihn auch nicht nach Lust und Laune aus den Tiefenschichten unserer Seele heraus. Aber gegen dieses reformatorische Grundgesetz steht auch unsere Lebenserfahrung: Er ist mitten unser uns, wie es in der Bibel heißt. Wir haben ihn jedoch in Bauch, Herz und Kopf, ohne ihn jedoch zu haben.
Einer der häufigen Vorwürfe gegen die Theologie des Paderborner katholischen Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann hat mit seinem tiefenpsychologischen Ansatz zu tun. Für Drewermann gibt es ein uraltes, auf aller Welt vorhandenes religiöses Wissen, das sich allenfalls unterschiedlich ausdrückt. Aus diesen Traditionen schöpfen, aus ihnen erfinden die späteren Generationen die Glaubenserfahrungen neu.
Wir bewegen uns auf bewährten Pfaden. Alles war – mehr oder weniger – schon einmal da. Diese Betrachtungsweise hat schon viele Theologen in Rage gebracht. Sie lesen die Bibel als ein historisches Buch: Jesus Christus ist die historisch unübertroffene Offenbarung Gottes — ein einmaliges Ereignis mit unwiederholbaren Folgen.

Folglich konstruieren wir in der Abendmahlsfeier nicht die Gottesbegegnung jeweils neu, sondern wir erinnern uns ihrer wir vergegenwärtigen sie uns jeweils neu. Wir erfinden sie nicht, noch weniger produzieren wir sie. Wir sehen, wir erfahren die Nähe Gottes in der Gemeinde. Nicht Psychotechnik, sondern Begegnung mit einem Gegenüber findet statt. Es gibt keine Errettung in der eigenen Tiefe. Kein Sakrament-Automatismus vermag die Begegnung mit Gott herbeizuzwingen. Das Hochgebet mit den Einsetzungsworten ist kein „Sesam, öffne dich!“ ins Reich Gottes.
Unser Unterbewußtsein ist ein begrenztes Reservoir. Es hat, wie Hans Deidenbach in seinem Buch „Zur Psychologie der Bergpredigt“ schreibt, einen entscheidenden Nachteil: „Die Inhalte unseres individuellen Unterbewußtseins und des kollektiven Unbewußten stammen aus unserer und anderer Menschen Vergangenheit. Auf diese Weise kann lediglich unser Reich kommen, nicht aber das Reich Gottes.“

Mal wieder sind wir an dem Punkt, das Reich Gottes zu erfinden, statt sich ihm zu stellen. In der Bergpredigt heißt es: „Glücklich die Menschen, die arm im Geiste sind, denn ihnen wird die volle Wahrheit und Wirklichkeit zuteil.“ Armut im Geiste: das bedeutet hier Offenheit.
Horst Eberhard Richter, der Gießener Sozialpsychologe, war nicht der erste, der darauf hinwies, daß sich Menschen auch in eine Art Blindheitsspirale hineinmanövrieren können. Irgendwann sehen Menschen nur noch, was sie sehen wollen. Richter hält diese Erblindung zum Teil auch für selbstverschuldet: „Zwischen dem Erkennen und dem Handeln besteht ein kreisförmiger Zusammenhang. Wenn man nicht mehr tut, was man erkannt hat, kann man für sich auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Wenn man sich mit theoretischer Kritik dort begnügt, wo eine praktische Veränderung in persönlicher Reichweite gewesen wäre, korrumpiert die Unterlassung schließlich auch das kritische Denken. Die äußere Unterwerfung macht emotional stumpf und kognitiv blind.“ Das hat einen psychoanalytischen Hintergrund: Die Menschen wollen sich nicht die Scham zumuten, nicht gehandelt zu haben.

Wie diese Selbstbehinderung aufzuknacken ist, erklärt uns eine Fülle neuer Bücher. Das New Age mit seinen unermüdlichen Einladungen: Denk positiv! Geh andere Wege! nimmt die Erfahrung ernst, daß neue Denk- und Verhaltensmuster erlernbar sind. Neues Leben gerät häufig schon dadurch in festgefügte Zwangsrituale, daß man sich einen Perspektivenwechsel getraut. „Entdeckungen ergeben sich häufig daraus, daß man den gleichen Gegenstand wie alle anderen betrachtet, sich aber etwas anderes dabei denkt“, meint der Arzt und Nobelpreisträger Albert Szent-Györgyi. Das ist sicherlich auch ein Teil des Erfolges von Eugen Drewermann: ungewohnte Perspektiven auf sattsam bekannte Inhalte zu eröffnen. Pablo Picasso brach die Regel, daß Fahrradsitze zum Draufsitzen sind. Lenker und Sattel schweißte er zusammen: Ein Stierkopf entstand.

Im Abendland ist die Auffassung verbreitet, daß wir uns vom Kopf steuern. Der von Richter beschriebene Zusammenhang setzt die Akzente anders:
Augen und Hirn folgen häufig genug den äußeren Zwängen und der eigenen Anpassung. Sie sind allzu willige Organe reiner ganz alltäglichen raffinierten Selbsttäuschung.

Auch diese Aufgabe hat die Kirche: Sie muß – Hans Werner Dannowski, dem früheren Stadtsuperintendenten von Hannover und Filmbeauftragten der EKD, danken wir diesen Hinweis in seiner Hamburger Vorlesung „Über die Herrschaft der Film-Realität“ – „die verschiedenen, längst erkennbaren Seh-Theorien aufnehmen und weiterzuentwickeln suchen. Gesucht werden Bilder und Bildfolgen, Erzählungen und Bildcollagen, die mit der Wahrnehmung und Errettung der äußeren Realität zugleich die Grenzen der Sichtbarkeit respektieren… Sonst wird die Seh-Sucht der Menschen unüberwindlich, und die Manipulierbarkeit aller führt zur einsamen Vernichtung. ‚Der Gott in uns selbst‘ – heißt es in Wim Wenders‘ Film Bis ans Ende der Welt – wird uns mit Haut und Haar verschlingen.“
Dannowskis Wahrnehmungsästhetik stützt sich zentral die Bibelstelle: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1.Korintherbrief, Kapitel 13). Wichtig ist Dannowski diese Perikope, weil sie den Unterschied zwischen dem „Bejahen des Fragmentarischen und der Erfahrung des Ganzen“ erkennbar macht. Auch von den Bruchstücken, die der Voyeur Mensch in den Bildern zu sehen bekommt, ist im ersten Brief an die Korinther (Kapitel 13, Vers 12) die Rede: „Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin (Vers 12).

Die elektronischen Medien geben sich redlich Mühe zu vermitteln, was in der Welt passiert. Wir lassen uns gern auf sie ein: Sie befriedigen unsere Neugier und zugleich unseren Erlebnishunger. Nicht erschöpfend, gewiß nicht. Oft hinterlassen sie nur einen sehr viel größeren Hunger nach Leben. Andererseits benötigen wir diese zweite Wirklichkeit, dieses Leben aus der Konserve. Sie spiegelt allerdings nur Bruchstücke der Realität.

Nicht verarbeitete Informationen führen zu Verstopfung

„Das, was mir passiert, wird erst dadurch zu meiner Erfahrung, daß ich es verarbeite“, schreibt der frühere Trierer katholische Bischof Hermann Josef Spital in seinem Pastoralschreiben „Über die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen“. Überinformationen führen zu einer Verstopfung: Informationen, die nicht angeeignet und darum nicht zur Erfahrung werden“.
Vielleicht ist das Gravierendste, was man gegen die heutige Medienvielfalt sagen kann: Sie verleiten uns dazu, unsere Ohren – und mit ihnen das Bewußtsein – auf Durchzug zu stellen. „Erfahrungen fliegen einem nicht zu; man muß sie sich erarbeiten“, bemerkte der Trierer Bischof. „Wer Erfahrungen erschüttern will, muß meinen Erfahrungshintergrund aufheben und in Zweifel ziehen, was etwas anderes ist als der Austausch von irgendwelchen Argumenten.“
Hier schließt sich der Kreis: Ohne intensiven eigenen Erfahrungshintergrund bleiben Menschen abhängig von anderer Leute Argumente und Sichtweisen. Sie bleiben empfänglich für immer neue Reizwellen der Medien.

Für die Kirche ist das eine vertrackte Lage: In ihr kommt es bekanntlich nicht auf Weitergabe von theologischen Formeln, sondern von Glaubenserfahrungen an. Nun fehlt es immer mehr an authentischen Glaubenserfahrungen, deshalb versucht sich die Kirche im Moralisieren. Das kostet sie jedoch nur weiter Glaubwürdigkeit. Erst wenn sie sich gemeinsam mit den Menschen auf die Suche nach den „Lebenswahrheiten“ und Glaubenserfahrungen der Menschen macht, kommt sie von ihrem nicht ganz unverschuldeten schlechten Image weg. Dann wird es wieder wahr: Glaube kann das Leben bereichern, er wird „nicht mehr mißverstanden als Einengung und knechtische Gebote-bindung“ (Spital).

Das Sehen will gelernt sein, das Sichtbare hat überall Grenzen. Fiktion oder Wirklichkeit, was fand in den Kilometern Stasiakten seinen Niederschlag? Ob selbst der fleißigste Akten-Leser der Wahrheit näher kommt, ist noch nicht ausgemacht. Im Erfinden, so scheint es, waren die Bürokraten der Staatssicherheit groß. Sie schufen ihre Wirklichkeit nach Gutdünken, nach Auftrag, nach politischer Willfahrt.
Oft sieht der Narr mehr als der kühle Denker, denn er getraut sich den Perspektivenwechsel, vermag sich selbst in anderen Zusammenhängen zu sehen. Auch davon weiß Paulus ein Lied zu singen (1. Korintherbrief 3, 18 – 19): „Keiner täusche sich selbst. Wenn einer unter euch meint, er sei weise in dieser Welt, dann werde er Narr, um weise zu sein. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott.“

(mit freundlicher Genehmigung des Autors)